Lesen als Kunst

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„Der Roman, der die Gefälligkeit der ausgetretenen Wege vermeidet, schafft unweigerlich eine Spannung, er enttäuscht die unausgesprochenen Erwartungen des Lesers: dieser sieht sich plötzlich einem Regelsystem gegenüber, das er nicht kennt, an das er nicht gewöhnt ist und das für ihn eine Herausforderung bedeutet: wenn er es akzeptiert und in die Bedeutung dieses neuen künstlerischen Systems eindringt, findet er gerade im siegreichen Nahkampf mit dem Text seine Belohnung: den aktiven Genuss des Lesers.“

(Juan Goytisolo „Die Häutung der Schlange“)

Lesen ist nicht nur ein Zeitvertreib. Lesen öffnet den Zugang zu vergangenen Zeiten, zu tief verschürften Erkenntnissen, zum inneren Kern des Seins. Doch das Lesen wird erst dann zur Kunst, wenn es fernab der reinen Unterhaltung stattfindet. Viele Menschen lesen, was täglich in die Buchhandlungen flutet und auf Bestseller-Listen steht. Die Gegenwart ist ausgefüllt mit einer Vielzahl an oberflächlichen und schnell geschriebenen Büchern, bei denen immer das Gefühl zurückbleibt, dass etwas fehlen würde, und sei es eine gute Idee. Solche Bücher kauen die immer gleichen Themen wieder, gefördert durch eine streng reglementierte Verlagswelt, die den Gewinn im Auge behält und die politischen Interessen bedient. Das Können ist dabei weniger gefragt als das Zielen auf den Zeitgeist.

Für echte Literatur-Menschen sind Bücher jedoch weiterhin eine Quelle der Weisheit, die sich in der Moderne mehr und mehr verliert. Nicht wenige greifen lieber auf die Klassiker zurück als sich mit der immer chaotischer werdenden Gegenwart herumzuschlagen. Was mit dem Beginn des Buchdrucks bereits bemängelt wurde, dass immer mehr Bücher geschrieben werden, die einen anderen Zweck erfüllen als die geistige Reinigung, ist heutzutage zu einer Farce an Bestseller geworden, die selten etwas Unvergessliches bieten. Daher ist es wichtig, auf das „andere Buch“ hinzuweisen, auf alte, neue, philosophische und experimentelle, auf Inhalte, die begeistern können, ihre eigene Welt vermitteln, die tiefgründig sind und hinterfragen. Lesen soll erfüllend sein, eine sich unendlich ausdehnende Bibliothek erschaffen, die man lächelnd und wie die Figur Kien in Canettis „Blendung“ in seinem Kopf herumträgt.

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